An vielen Stellen der Philosophie, der Anthroplogie, der Theologie, der Psychologie und auch der Arbeitswissenschaft gibt es Konzepte, ob der Mensch im Prinzip gut oder schlecht. Wie wir diese Frage beantworten, hat massive Ausswirkungen darauf, wie wir uns unseren Partner:innen, Freund:innen und Kolleg:innen gegenüber verhalten.
Einigen Leser:innen wird die uralte Theorie X und Y von McGregor etwas sagen. Wir zitieren wikipedia: "Die Theorie X nimmt an, dass der Mensch faul ist und versucht, der Arbeit so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Prinzipiell ist er von außen motiviert; das heißt durch extrinsisch ausgerichtete Maßnahmen zu belohnen beziehungsweise zu sanktionieren. Im Gegensatz dazu geht die Theorie Y davon aus, dass der Mensch durchaus ehrgeizig ist und sich zur Erreichung sinnvoller Zielsetzungen bereitwillig strenge Selbstdisziplin und Selbstkontrolle auferlegt. Er sieht Arbeit als Quelle der Zufriedenheit und hat Freude an seiner Leistung."
Eine "neue Geschichte der Menschheit" aus Sicht der Y-Perspektive hat der Historiker Rutger Bregman geschrieben. Er rückt in seinem Buch "Im Grunde gut" gerade, dass wir in unserem Wesen nicht bösartig sondern gut sind, Gutes wollen und anderen gegenüber mitfühlend, konstruktiv und hilfbereit sind.
Überrascht Sie das, liebe Lesende? Wir sind seit Jahrhunderten darauf gedrillt, in jedem uneigennützigen Verhalten - sei es noch so offensichtlich - einen egostischen Hintergedanken zu vermuten. Bregman berichtet über Tim Postmes, den Professor für Sozialpsychologie in Groningen. Seit Jahren stellt er seinen Studenten immer die gleiche Frage: Ein Flugzeug muss notlanden und bricht in drei Teile. Die Kabine füllt sich mit Rauch. Allen Insassen ist klar: Wir müssen hier raus. Was passiert?
Auf Planet A fragen die Insassen einander, ob es ihnen gutgehe. Personen, die Hilfe benötigen, bekommen den Vortritt. Die Menschen sind bereit, ihr Leben zu opfern, auch für Fremde.
Auf Planet B kämpft jeder für sich allein. Totale Panik bricht aus. Es wird getreten und geschubst. Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen werden niedergetrampelt.
Auf welchem Planeten leben Sie, liebe Leserin und lieber Leser?
«Ungefähr 97 Prozent glauben, dass wir auf Planet B leben», sagt Postmes. Diese 97% glauben an die sogenannte Fassadentheorie: Nur durch eine Fassade verdecken wir Menschen unser wahres, kriegerisches, egoistisches und böses Wesen. Die Zivilisation wäre demnach eine dünne Fassade, die beim geringsten Anlass einstürzen würde. Können Sie sich damit identifizieren?
Wir hatten schon immer unsere Bedenken und sehen uns nun von Postmes bestätigt: «Aber tatsächlich leben wir auf Planet A.» Dass das so ist, belegt Bregman anhand von historischen Analysen und mit vielen wissenschaftlichen Studien.
In seinem Buch zitiert Bregman u.a. Untersuchungen an Musketen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, die voll geladen neben den Soldaten gefunden wurden. Anhand des Fundortes konnte man nachvollziehen, dass die Soldaten nicht geschossen haben, obwohl sie dafür die Gelegenheit hatten. Sie wollten nicht töten.
Bregman wertete die Fotos, Tagebucheintragungen und Berichte von
Soldaten an der Front des ersten Weltkrieges aus, die über ein
friedliches und verbindendes Weihnachten 1914 im Schützengraben
berichteten. Gemeinsames Singen und Feiern von britischen und deutschen Soldaten! Dabei entstand persönlicher Kontakt. Das ist ein Schlüssel zur Menschlichkeit - Agression dagegen entsteht über
Entfernung. So wollte das Oberkommando im folgenden Jahr 1915 Verbrüderungen verhindern und befahl aus der Distanz Bombardements. Wäre es nach den Soldaten gegangen, hätten sie viele Fehlschüsse produziert.
Auch mit dem "Herr der Fliegen" räumt Bregman auf. Mussten auch Sie dieses Buch in der Schule lesen? Neben der Fiktion gibt es allerdings eine wahre Geschichte von 10 Jungs auf einer Insel, die völlig anders verlief - diese Geschichte könnten Sie ja jetzt selber lesen.
Bregman sieht, dass es "das Böse" gibt und Menschen, die anderen Böses wollen. Sein Fazit, dem wir uns anschließen: "Das Böse ist stärker - aber das Gute ist mehr."