In der aktuellen Ausgabe 1/2010 der Zeitschrift "Organisationsentwicklung" wird der französische Philosoph und Sinologe Francois Jullien u.a. dazu interviewt, wie unterschiedlich Veränderungsprozesse in China und Europa ablaufen.
Als "typisch europäisch" beschreibt Jullien die Herleitung einer idealen Zukunft mit daraus abgeleiteten Zielen, die es nach Regeln des Projektmanagements umzusetzen gilt. "Typisch chinesisch" ist dagegen, in der gegenwärtigen Situation mögliche Aspekte und Bedingungen wahrzunehmen, die mittels positiver Verstärkung eine Situationsveränderung bewirken. Jullien spricht davon, dass es in der chinesischen (Agrar-)Kultur völlig selbstverständlich ist, Reifungsprozessen zu vertrauen. Dementsprechend beginnt und beendet er seinen Artikel mit dem Apell "Nicht an den Setzlingen ziehen": "Geben Sie acht in diskreter Kontinuität, an den Situationen zu arbeiten und diese so zu gestalten, dass sie sich fuer Sie begünstigend auswirken".
Gar nicht so einfach, das auszuhalten, oder was meinen Sie?
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Mein Kommentar schließt sich an den letzten Satz an: Wie kann ich an einer Situation arbeiten, damit sie sich begünstigend für mich auswirkt, ohne ein Ziel zu verfolgen? Ich brauche eine Idee, was für mich gut ist (könnte man auch Ziel nennen), um eine Situation danach zu bewerten, was für mich begünstigend ist.
AntwortenLöschenDie Vorstellung, "nicht an den Setzlingen zu ziehen" finde ich in einer typischen Aussage aus der Eifel wieder: "kume loße" was soviel heißt wie "kommen lassen". Das ist keine ausgefeilte Philosophie sondern drückt die Erfahrung aus, dass in den Boden gesetzte Samenkörner unter bestimmten Bedingungen gut wachsen - und das ist durchaus auch metaphorisch gemeint.
Schwups, schon haben wir wieder ein Ziel - gut wachsen! Aus dem Weizenorn soll ein gerader, nicht zu hoch gewachsener Stengel werden, an dessen Ende eine schöne Ähre viele neue Weizenkörner bildet. Wir wissen schon genau, was wir wollen, und düngen oder lockern den Boden entsprechend.
Ich verstehe Francois Jullien jetzt so, dass die chinesische Philosophie nicht die Ziele ablehnt, Ziele aber durch Projektmanagement zu erzwingen, würde den Setzling aus der Erde ziehen.
Ich suche nach Parallelen in meinem Leben: eins-zu-eins läßt sich der Gedanke "nicht an den Setzlingen ziehen" z.B. auf die Arbeit mit der menschlichen Stimme übertragen. Auch da stelle ich die Bedingungen (Gedanke, Haltung, Atmung, Stimmapparat) darauf ein, dass die Stimme gesund und wie gewünscht erklingen kann. Den Stimmklang kann ich nur beeinflussen, indem ich die Bedingungen verändere. Zwang und Druck wirkt sich hemmend auf einen natürlichen Stimmklang aus.
Schwerer erscheint es mir, bei größeren Entscheidungen dem Reifungsprozess zu vertrauen, z.B. bei Fragen wie studieren oder ein Handwerk lernen, angestellt oder selbständig arbeiten, Pflege zu Hause oder im Altenheim, diese oder eine andere Therapie, bleiben oder gehen. Da kann es schnell passieren, dass einem die Zeit davonläuft oder man nicht mehr selber entscheiden kann, weil andere die Entscheidung getroffen haben. Einen Reifungsprozess auszuhalten, scheint mir eher schwer zu sein, aber in vielen Situationen einen Versuch wert.
Es würde mich freuen, wenn andere Kommentatoren noch mehr Beispiele beschreiben würden.
Da schon die "größeren Entscheidungen" angesprochen werden: Interessant finde ich Julliens Aussagen in Bezug auf die Vereinbarung der chinesischen Strategenposition mit der Demokratie, siehe auch http://ambivalenz-der-macht.tumblr.com/post/489482042/ist-wirksamkeit-mit-demokratie-vereinbar
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